Pacing statt GET – warum sanftes Energiemanagement bei ME/CFS sinnvoller ist

Pacing statt GET – warum sanftes Energiemanagement bei ME/CFS sinnvoller ist
Photo by Aleksandr Ledogorov / Unsplash

Nach meiner Diagnose hörte ich oft: „Du musst Dich Stück für Stück wieder auf das alte Niveau bringen.“ Was logisch klingt, kann für Menschen mit ME/CFS gefährlich sein. Warum GET mehr schadet als nützt und wie Pacing mir geholfen hat, meinen Körper endlich ernst zu nehmen.

Schon kurz nach meiner Diagnose hatte mein Umfeld eine Menge „guter“ Ratschläge für mich: Da war alles dabei von “Du musst Dich bewegen, sonst rostest Du ein.” über „Der Körper folgt dem Geist“ bis hin zu “Du musst Dich Stück für Stück wieder auf das alte Niveau bringen.” Direkt empfohlen hat mir niemand GET (Graded Exercise Therapy), aber der Druck, wieder funktionieren zu müssen, war sofort da. Und genau das wollte ich ja auch selbst: zurück ins Leben. Also habe ich nicht auf die Signale meines Körpers gehört und weiter gemacht. Bezahlt habe ich dafür mit Wochen völliger Erschöpfung, Schmerzen und Isolation.

GET – klingt logisch, ist aber gefährlich

Mit dem Begriff GET konnte ich damals noch nichts anfangen, auch wenn ich aus heutiger Sicht genau nach diesem Prinzip gelebt habe. GET bedeutet, die körperliche Aktivität kontrolliert zu steigern. Im Prinzip genauso, wie manche Fitnessarmbänder uns pushen: Beat Yesterday, was so viel heißt wie: Mach‘ mehr als gestern. Klingt erstmal logisch und passt genau in unsere Leistungsgesellschaft. Doch so zu handeln hat für ME/CFS-Betroffene fatale Folgen und kann gefährlich sein.

Das Kernsymptom, das alles verändert

Der Grund dafür ist das Kernsymptom von ME/CFS, die Post-Exertional Malaise (PEM), also die Verschlechterung nach Belastung. Und wir reden hier nicht von dieser normalen Erschöpfung nach einem harten Training, die nach kurzer Erholung wieder vergeht. Bei ME/CFS regeneriert sich der Körper nicht nach ein paar Stunden Schlaf. Im Gegenteil: Schon kleine Überlastungen können den Körper dauerhaft in einem schlechteren Stadium zurücklassen.

Warum GET trotzdem so lange empfohlen wurde

Dass GET trotzdem so lange als „Behandlung“ galt, hat viel mit der sogenannten PACE-Studie von 2011 zu tun. Dort wurden GET und kognitive Verhaltenstherapie (CBT) als wirksam dargestellt. Erst später kam ans Licht, dass Erfolgskriterien nachträglich verändert wurden und die Ergebnisse „schöngerechnet“ waren. Re-Analysen zeigten: Der tatsächliche Nutzen war - wenn überhaupt - nur minimal, die Risiken für Betroffene dagegen hoch.

Erfahrungen von Betroffenen und was die Forschung zeigt

Viele Betroffene haben es am eigenen Körper erlebt: In großen Befragungen berichtete mehr als die Hälfte, dass sich ihr Zustand durch GET verschlechtert hat. Auch Fachartikel weisen darauf hin, dass Überlastung bei ME/CFS Prozesse wie Entzündungen, oxidativen Stress oder Störungen im Energiestoffwechsel verstärken kann, also genau das, was uns ohnehin schwächt. Heute ist die Sicht schon oft eine andere, denn in der britischen Leitlinien des NICE wurde GET inzwischen gestrichen. Stattdessen steht im Vordergrund, dass wir mit Pacing lernen, innerhalb unserer Energiegrenzen zu bleiben und Crashs möglichst zu vermeiden.

Was Pacing anders macht

Mit dem Pacing kam auch für mich ein Wendepunkt: Statt “immer ein bisschen mehr” geht es nun darum, meine eigenen Grenzen ernst zu nehmen und mir die Aktivitäten so einzuteilen, dass ich möglichst stabil bleibe. Dabei ist Pacing kein starres System. Es ist vielmehr das kontinuierliche Wahrnehmen der Körpersignale: Wie viel Energie habe ich heute? Wie teile ich sie am besten ein? Pacing bedeutet Nein zu sagen, Pausen einzuplanen und das Tempo rauszunehmen. Und es bedeutet, dass Rückschläge dazu gehören, dass man trotz gutem Pacing crashen kann.

Pacing bedeutet nicht Stillstand

Manchmal wird Pacing so verstanden, als dürfe man das eigene Aktivitätsniveau nie wieder verändern. Doch das stimmt so nicht. Für mich heißt Pacing nicht Stillstand, sondern Stabilität und diese Stabilität ist die Grundlage für alles Weitere. Nur wenn ich über längere Zeit wirklich stabil bleibe und meine Körpersignale gut kenne, kann ich vorsichtig prüfen, ob eine minimale Anpassung möglich ist. Dabei geht es aber nie darum, Grenzen zu überschreiten oder mehr zu schaffen, sondern darum, die eigenen Spielräume achtsam auszuloten.

Eine kleine Veränderung, etwa ein paar Meter mehr zu gehen oder eine Tätigkeit minimal zu verlängern, ist nur dann sinnvoll, wenn sie sich über Wochen hinweg ohne Anzeichen von PEM halten lässt. Zeigt mein Körper dagegen früh, dass es zu viel war, gehe ich sofort wieder einen Schritt zurück. Pacing heißt also, den Körper genau zu beobachten, nicht zu drängen und Stabilität immer wichtiger zu nehmen als Fortschritt.

Der Körper bestimmt das Tempo

Und genau das ist der entscheidende Unterschied zu GET: Bei GET gibt es feste Vorgaben von außen. Es wird erwartet, dass man regelmäßig steigert, egal wie es einem geht. Beim Pacing hingegen gibt mein Körper das Tempo vor. Wenn er mir zeigt, dass ich noch nicht bereit bin, bleibe ich auf meiner sicheren Basis. Denn Stabilität kommt definitiv vor Fortschritt.

Fazit: Was mir Pacing wirklich schenkt

Erst als ich gelernt habe, wirklich zuzuhören – nicht dem Umfeld, sondern meinem Körper – wurde es besser. Heute bedeutet Pacing für mich nicht Stillstand, sondern Stabilität. Kleine Schritte, die nicht zurückwerfen. Und es bedeutet, dass ich mir selbst Stabilität schenken kann. Dass ich wieder kleine Stücke Lebensqualität zurückgewinne und das Vertrauen, dass mein Körper es verdient, ernst genommen zu werden.

GET hat mich zurückgeworfen und Pacing gibt mir Sicherheit. Nicht, weil es leicht ist, sondern weil es mein Leben tragbarer macht.

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📺 Und für alle, die lieber schauen als lesen: Auf YouTube gibt’s eine verkürzte Video-Fassung des Beitrags: https://youtu.be/pyRuxEHQqrc


Hinweis: Dieser Beitrag stellt keine medizinische Beratung dar. Er basiert auf meinen persönlichen Erfahrungen als Betroffene von ME/CFS sowie auf Recherchen in Fachartikeln und Leitlinien. Er soll informieren und aufklären, aber nicht ärztliche Diagnosen oder Therapien ersetzen. Für medizinische Fragen wende dich bitte an Ärztinnen und Ärzte.


Weiterführende Infos & Quellen

Weil rund um ME/CFS und Pacing noch immer viele Missverständnisse kursieren, habe ich für alle, die gern selbst noch etwas tiefer einsteigen möchten einige verlässliche Quellen zusammengestellt:

NICE-Leitlinie (UK, 2021)
Empfiehlt kein GET mehr. Stattdessen steht im Mittelpunkt, die Energiegrenzen zu respektieren und mit Pacing Überlastungen zu vermeiden.
Zur Leitlinie NG206

Re-Analyse der PACE-Studie (2018)
Zeigte, dass die ursprünglichen Ergebnisse geschönt waren und GET kaum Nutzen brachte.
Zur kritischen Nachanalyse

ME Association (2022): Pacing and Energy Management
Beschreibt, wie Pacing zur Stabilisierung beiträgt und kleine Anpassungen nur ohne PEM erfolgen sollten.
Zur ME Association

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